Unsere Kolumne: Liberale Demokratie

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Liberale Demokratie – Wagnis und Aufforderung zugleich

Der ehemalige Verfassungsrichter und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde veröffentlichte im Jahre 1976 in einem Sammelband einen Aufsatz mit der Überschrift: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“. Dort findet sich auf Seite 60 eine vielzitierte Äußerung:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Diese Äußerung ist auch heute noch nachdenkenswert. Das Vorhandensein entsprechender Qualifikationen bei ihren Bürgern kann eine freiheitliche Demokratie natürlich nicht garantieren. Insofern hat Böckenförde Recht. Aber für das Herstellen dieser Qualifikationen bei ihren Bürgern muss gerade eine freiheitliche Demokratie auch selbst sorgen (können). Macht sie das nicht, setzt sie ihre Existenz selbst aufs Spiel. Denn die Freiheitrechte müssen in einer liberalen Demokratie immer wieder aufs Neue verteidigt werden, wie derzeit die aktuelle Entwicklung gleich mehrerer Länder zeigt.

Welche anthropologischen Qualifikationen im Einzelnen nun zum Erhalt einer Demokratie nötig sind, ist dann leicht zu sehen, wenn man die Demokratie als Staatsform von den absolutistischen Staatsformen politisch rechter und linker Spielart abgrenzt. Egal, ob ein Herrscher erklärt: Der Staat bin ich – oder die Parole gilt: Die Partei hat immer Recht: In keiner absolutistischen Staatsform ging und geht es darum, dass der einfache Staats-Bürger eigenständig nachdenken und entsprechend handeln soll. Er sollte nur den Anweisungen der Oberen (wer auch immer das gerade war oder ist) folgen; und zwar am besten zu jeder Zeit und völlig. Keinem absolutistischen Herrscher waren eigenständig oder gar querdenkende Mitbürger willkommen. Diese sollten vielmehr nur Untertanen sein. Humanisten verweisen in diesem Kontext gerne auf die aufklärerische Forderung des Philosophen Immanuel Kant (1724-1804): „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Diese Forderung war absolutistischen Herrschern im Grunde immer ein Graus. Das soll und muss, im Grundsatz, in einer Demokratie anders sein. In Deutschland wird deshalb das Ideal vom mündigen Bürger propagiert, der eine politisch kompetente und am besten noch historisch gebildete Persönlichkeit ist.
Nun ist oben nur ein (zu) knapper Teil der Böckenförde-Äußerung, die auch Böckenförde- Theorem genannt wird, angeführt. Um sie richtig einzuordnen, muss man ihre Fortführung lesen:

„Das ist das große Wagnis, das er [sc. der Staat], um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen heraus-geführt hat.“

Um diesen (ebenfalls wichtigen) Teil der Böckenförde-Äußerung auf die heutige Zeit zu beziehen, bietet sich die Frage an: was bedeutet eigentlich das oben angesprochene Ideal mündiger Bürger in einer pluralistischen Gesellschaft wie der unsrigen? Mündig-Sein kann nun nicht nur bedeuten, eine eigene Meinung zu haben. Denn die haben heute viele, und zwar bisweilen ohne lange nachdenken zu müssen. Es bedeutet auch, die eigene Meinung rational einsehbar und damit nachvollziehbar begründen zu können. Denn erst mit der Begründung nennt man die gedanklichen Voraussetzungen, auf denen die eigene Meinung beruht. Insofern müss(t)en wir uns in unserer pluralistischen Gesellschaft bei jeder Behauptung fragen, ob sie denn auch rational nachvollziehbar begründet wurde. Das gilt nicht nur für das sog. postfaktische Erzählen und das Verwenden von alternativen Fakten. Nun müssen postfaktische Protagonisten zwar zumeist nicht in sachlicher, aber in politischer Hinsicht ernst genommen werden; auch wenn sie oft im Grunde nichts anderes als manipulieren wollen.

Nun ermöglicht die Meinungsfreiheit in der liberalen Demokratie u. a., dass jeder auch Unsinn erzählen kann. Das Gute in einer liberalen Demokratie besteht nun u. a. darin: man kann Unsinn auch einfach Unsinn nennen. Zum Erhalt der freiheitlichen Demokratie sollte man es aber auch. Eine liberale Demokratie ist nämlich – gerade in einer pluralistischen Gesellschaft – immer auch eine Aufforderung zum kritischen, rationalen Diskurs. Eine entsprechend diskussions- und diskursfreudige Haltung der Regulierungskräfte, wie Böckenförde sich in seinem Aufsatz ausdrückt – also auch der sog. Bürgergesellschaft bzw. der Gesellschaft der mündigen Bürger – kann man nun allerdings nicht mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots erreichen. Auch hier hat Böckenförde Recht. Aber man kann eine solche diskursfreudige Haltung z. B. durch das gezielte Initiieren und Führen von Diskussionen praktizieren und einüben. Hierbei besteht auch nicht die Gefahr, die eigene Freiheitlichkeit aufzugeben, wie Böckenförde in dem Zitat oben schrieb. Im Gegenteil. Vielmehr kann man sich diesem Wagnis … um der Freiheit willen (ebd.) stellen. Zum Erhalt der liberalen Demokratie sollte man es sogar. Auch wenn diese das nicht einfordert.

Bernd Werner, 11. September 2017